Nation und Klasse im Stadtgedächtnis. Zum Wandel der Erinnerungskultur in Łódź nach 1945
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Die systematische Entwicklung von Łódź zu einem Zentrum der Textilindustrie in Mitteleuropa setzte bereits 1820 ein. Der wirtschaftliche Aufschwung und das rasante Bevölkerungswachstum leisteten einer raschen Mythisierung der Stadt als „Manchester des Ostens“ Vorschub.
1899 erhielt Łódź mit Władysław Reymonts „Das Gelobte Land“ seinen eigenen Roman, der den nachhaltig negativen Ruf der Stadt begründete. Zugleich markieren die Anfänge des industriellen Łódź den Beginn seiner aus Polen, Deutschen, Juden und Russen bestehenden polyethnischen Stadtgesellschaft. Der Zweite Weltkrieg, einhergehend mit deutscher Okkupation und der Einrichtung des Gettos Litzmannstadt, setzte dieser Entwicklung ein Ende. Vertreibungen, Umsiedlungen sowie die Deportation und Vernichtung der Juden veränderten die Bevölkerungszusammensetzung nachhaltig.
Nach 1945 wurde Łódź reindustrialisiert und für die Aufbaugeneration der 1950er Jahre zum neuen Gelobten Land – dieses Mal unter sozialistischen Vorzeichen. Nach dem Niedergang der Textilindustrie zu Beginn der 1990er Jahre erwuchs die Notwendigkeit einer Neuaneignung der Lokalgeschichte. Unter verschiedenen offiziellen und privaten Akteuren mit jeweils spezifischen Intentionen setzte die Rezeption der vormals verschwiegenen und von der sozialistischen Großerzählung überlagerten jüdischen, deutschen und russischen Erinnerung an Łódź ein.
In dem Dissertationsvorhaben gilt es zu ermitteln, wie in Łódź die Arbeitsmigrationen zweier Industrialisierungen – im 19. und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – im Verhältnis zu den Zwangsmigrationen des Zweiten Weltkriegs erinnert werden. Der markanteste Erinnerungsort hinsichtlich der nationalsozialistischen Besatzung ist zweifellos das ehemalige Getto. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind in der Erinnerung an die verschiedenen Opferkollektive (Juden, Roma, polnische Kinder und Jugendliche) nach 1945 zu verzeichnen? Wie verhält sich das Gedenken an das Getto zur Erinnerung an Vertreibungs-, Flucht- und Ansiedlungsprozesse anderer Gruppen wie der Deutschen und der „Repatrianten“ aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten?
In jüngster Zeit wurde die Herausbildung einer positiven lokalen Identität, die auf das (verklärte?) Bild einer toleranten, multikulturellen Gesellschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückgreift, für Łódź zu einem Element der Image-Konstruktion und des Stadtmarketings. Eine Gedächtnispolitik, die den Maßgaben der „heritage“-Produktion gehorcht, lässt jedoch – so die These – andere, insbesondere schmerzhafte, Erinnerungsstränge in den Hintergrund treten.
Ulrike Lang

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